Im August 2021, als die Salzburger Festspiele sich nach akribischer Planung wieder mit Besucherinnen und Besuchern füllten, stand Evgeny Kissin im ausverkauften Großen Festspielhaus der Stadt. Sein Programm barg Ungewöhnliches, Werke von Berg, Chopin, Gershwin und – zur Überraschung mancher – Chrennikow. Auch eine reiche Auswahl an Zugaben war vorgesehen: Mendelssohn und Debussy, noch mehr Chopin und eine eigene Komposition von Kissin selbst. »Vor Publikum bin ich einfach inspirierter«, erklärte der Pianist und bewies seine Kunstfertigkeit in einer Darbietung, die trotz ihrer Dauer von fast zwei Stunden durch ihre »tiefe Intensität und Konzentration« (Bachtrack) besonderen Eindruck machte. The Salzburg Recital wurde von Deutsche Grammophon live aufgenommen und erscheint am 5. August 2022 als Doppel-CD und e-Album.
The Salzburg Recital spannt einen Bogen von der Klangwelt Chopins im 19. Jahrhundert bis zu Werken dreier Komponisten aus dem frühen 20. Jahrhundert, die aus sehr unterschiedlichen Traditionen hervorgegangen sind: der österreichischen, der amerikanischen und der sowjetischen.
Das Album wird mit der Klaviersonate Op. 1 von Berg eröffnet. Es ist Musik, die die Grenzen konventioneller Tonalität erweitert und eine spätromantische Klangwelt offenbart – voller Kontraste, nach innen blickend ebenso wie emotional aufgewühlt. Daneben stellt Kissin Bergs Zeitgenossen George Gershwin. Die beiden Männer begegneten sich 1928 in Wien und waren voller Bewunderung für die Musik des jeweils anderen. Gershwin war selbst ein herausragender Pianist, und seine Three Preludes aus dem Jahr 1926, die Einflüsse aus Klassik, Jazz, Blues und Ragtime vereinen, wurden bald zu einem Eckpfeiler des amerikanischen Repertoires.
Chopin, bekanntermaßen auch er ein großer Pianist, ließ sich ebenfalls von der populären Musik seiner Zeit inspirieren. Kissin spielt hier eine titanische Reihe seiner Werke, er beginnt mit dem erhabenen Nocturne in B-Dur op. 62 Nr. 1 und fährt fort mit drei der vier Impromptus, Nr. 1 in As-Dur, Nr. 2 in Fis-Dur und Nr. 3 in Ges-Dur. Der Eröffnungsakkord und die feurige Einleitung des Scherzos Nr. 1 in h-Moll op. 20, eines Werks von enormer musikalischer Komplexität, fegt die fröhliche Stimmung hinfort. »Mit fesselnder Energie setzt er das Dämonische in dem Stück frei«, schreiben die Salzburger Nachrichten über Kissins Interpretation. Den Abschluss des Chopin-Parts bildet eine elektrisierende Darbietung der Polonaise As-Dur op. 53.
Die vielleicht überraschendste Vervollkommnung dieses eklektischen Programms sind jedoch die Miniaturen des jungen Tichon Chrennikow, eines Musikers, der später Generalsekretär des sowjetischen Komponistenverbandes und hoher Kulturfunktionär der UdSSR werden würde. Die optimistische Vitalität seines Tanzes und seiner Fünf Stücke legt zugleich Zeugnis ab von einem Paradoxon. Chrennikow war ein Mann, der die »formalistischen« Werke von Kollegen wie Schostakowitsch und Prokofjew anprangern sollte, während er sich hinter den Kulissen für den Schutz derjenigen einsetzte, die vom sowjetischen System bedroht wurden, darunter viele jüdische Komponisten und Interpreten. Kissin, der als Kind vor Chrennikow auftrat, möchte, dass man ihn an seinen Werken misst und nicht an seinen Worten in einem totalitären Regime.
The Salzburg Recital schließt mit nicht weniger als vier Zugaben: dem »Duetto« aus Mendelssohns Liedern ohne Worte op. 38, Kissins spritzigem Dodecaphonic Tango, Chopins Scherzo Nr. 2 und – als Moment der Stille nach tosendem Applaus – Debussys Clair de lune.
Kissins konzentrierte, stets einfühlsame Lesarten offenbaren das, was bei dieser persönlichen Auswahl vielleicht am wichtigsten ist – die gemeinsame Liebe von Künstler und Komponist zum Klavier.
Wie das Konzert, so ist auch das Album dem Andenken von Anna Pawlowna Kantor gewidmet, der Lehrerin von Kissin. Sie starb nur drei Wochen vor dem Recital, am 27. Juli 2021 im Alter von 98 Jahren. Kissin war gerade sechs Jahre alt, als er seinen ersten Unterricht bei Kantor an der berühmten Moskauer Staatlichen Musikhochschule Gnessin erhielt. »Schon bald, nachdem ich mein Studium bei ihr begonnen hatte, war Anna Pawlowna für mich viel mehr als eine Lehrerin«, erinnert er sich. »Sie war unserer Familie sehr nahe — und vor 30 Jahren ist sie schließlich zu uns gezogen. Sie war meine einzige Klavierlehrerin. Und alles, was ich auf dem Klavier zu tun vermag, verdanke ich ihr. Sie war wirklich eine bemerkenswerte Frau, ein Mensch von seltener Integrität und Feinheit.«
Auch in diesem Jahr ist Kissin bei den Salzburger Festspielen zu erleben. Am 5. August gibt er ein Solorecital mit Werken von J.S. Bach, Mozart, Beethoven und Chopin, am 9. August ein Duorecital mit Sir András Schiff. Sein Soloprogramm wird im Juni und Juli auch in Brüssel, Luxemburg, Wuppertal, Essen, München und beim Verbier Festival zu hören sein.